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„…wenn auch das Herz uns verurteilt – Gott ist größer als unser Herz, und er weiß alles.“ (1 Joh 3, 20)

Gemeinhin unterstellt man den Menschen, insbesondere dem modernen Menschen, dass er oberflächlich sei, kaum fähig zur Selbstreflektion, Schuld verdränge oder diese auf andere abwälze. Da verblüfft uns diese kleine Notiz im 1. Johannesbrief, die man in der 2. Lesung des heutigen Sonntags findet, vom sich selbst anklagenden Herz. Ein solches Herz ist fast genauso schwer zu ertragen wie jemand, der eigene Schuld leugnet und nicht bereit ist Verantwortung für sein Tun zu übernehmen. Mich macht es dann oft stumm und ratlos, wenn ich Menschen gegenübersitze, die sich nicht trösten lassen können, weil sie sich selbst verurteilen. In erster Linie denke ich dabei an Menschen, die tiefe Scham empfinden. Sie haben erlebt, dass sie zum Gespött der Mitmenschen geworden sind. Vielleicht haben sie allzu frei über ihre Sehnsüchte und Triebwünsche gesprochen, vielleicht war es nur das falsche Kleid oder das Empfinden, dass sie so, wie sie sind, völlig lächerlich und inakzeptabel seien. Das ganze Selbstwertgefühl ist dann im Wanken und sie schämen sich, sind wütend auf sich und finden sich nur noch peinlich. Meist ist der Inhalt ihrer Selbstvorwürfe für mich dann gar nicht nachvollziehbar, weil m.E. die Wucht der Autoaggression in keinem Verhältnis zu dem stehen, was erzählt wurde. Sich nicht verzeihen können, weil man auf der Welt ist, welch schreckliches Drama eines Menschen.
Ein anderer Fall ist es, wenn jemand meint, dass er irgendwann in seinem Leben die Weichen falsch gestellt habe und er oder sie nun zu immerwährendem Unglück verdammt sei. Der andere Mann oder die andere Frau wären es z.B. gewesen, mit der man wirklich glücklich geworden wäre. Furchtbar war es, wie es mir zweimal passierte, dass von mir geschätzte Mitbrüder mir sagten, sie hätten ihr Leben verdorben, weil sie den falschen Beruf ergriffen hätten. In solchen Fällen wie diesen lautet dann die Klage des Herzens: „Wie konnte ich nur so dumm sein. Ich habe mir alles verdorben. Ich habe alles falsch gemacht.“ So oder ähnlich hadern Menschen dann mit sich selbst.
Als dritte nenne ich jene, die wirklich schwere Schuld auf sich geladen haben, die aber damit nicht fertig werden. Nehmen wir z.B. Soldaten im Krieg, die jemanden erschossen haben und realisieren, dass sie schuld am Tod eines Menschen sind und nicht eines Feindes. Bilder von brennenden Häusern, verletzter und getöteter Zivilisten quälen sie. Um es aber alltäglicher zu machen, wie ist es mit einem Menschen, der bei einem Verkehrsunfall, sagen wir aus Unachtsamkeit oder wegen zu schnellen Fahrens, ein Kind getötet hat? Dieses kann kein noch so großes Bedauern wieder lebendig machen. Wer wagt hier freizusprechen?
In all diesen Fällen steht die Zusage im Johannesbrief: „Wenn das Herz uns auch verurteilt, Gott ist größer als unser Herz.“ Doch sagen Sie dies einem von eigener Verurteilung Gequälten, wird der sich nicht leicht trösten lassen, sondern an seiner scharfen Selbstverurteilung festhalten. Deshalb ist der Zusatz so wichtig, dass DER mit dem größeren Herz alles weiß. Unser eigenes Urteil über uns und über Fremde ist immer unvollkommen, weil wir so vieles nicht wissen. Wer kennt die eigene Geschichte, die verborgenen Regungen des Herzens, den Einfluss von Veranlagung und Erziehung, die Wirkung von Gesellschaft und Geschichte bei sich oder gar bei anderen, um ein abschließendes Urteil sprechen zu können? Wer kennt die Leidenschaft Gottes für den Menschen in der Bedrängnis, z.B. des schlechten Gewissens oder des vernichtenden Urteils? Wer hat denn das Recht den Stab über sich oder andere zu brechen, wenn er nicht alles weiß? Die Botschaft des christlichen Glaubens ist dabei klar: Gott stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen.
Für all jene aber, die das eigene Herz nicht anklagt, die sich auf eine realistische Weise annehmen können, die verzeihen und Verzeihung annehmen können, ist es Aufgabe und Auftrag, denen beizustehen, die sich selbst verurteilen. Warum? Weil die Botschaft, dass Gott größer als unser Herz ist, zu den Menschen muss.

Pfarrer Wolfgang Sedlmeier

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